Mein Eindruck verstärkt sich mit zunehmenden Lebensalter: Die Funktion eines Menschen entscheidet bei vielen darüber, ob sie sich mit dieser Person abgeben oder nicht. Jedwede Ausnahme davon bestätigt die Regel. Wir leben in einer funktionsfixierten Gesellschaft!
Netzwerken als (Visiten-)Kartenspiel
Bestes Beispiel dafür sind all diese Veranstaltungen, bei denen es um Netzwerken, Networking oder – noch effizienter – Speednetworking geht. Der Begriff „Kartenspiel“ hat dabei einen völlig anderen Inhalt bekommen. Früher haben wir darunter Auto-Quartett, Skat, Schaf- oder Doppelkopf verstanden. Heute ist es das möglichst breite Streuen von Visitenkarten. Anhand dieser Art der „Qualifizierung“ von Kontakten kann schnell entschieden werden, ob sich das Vertiefen des Erstkontakts lohnen könnte oder nicht.
So lässt sich dann auch immer recht schnell erkennen, wer eine „potentiell-auftragsvergabe-relevante“ Funktion bekleidet und wer die „ich-mache-Kontakte-um-zu-verkaufen“-Funktion beim Netzwerken ausfüllt. Und zwar ganz einfach daran, wie schnell unaufgefordert eine Visitenkarte aufgedrängt wird und wie groß die Menschentraube um einen „qualifizierten Kontakt“ ist.
Eine ganz typische Situation ist mittlerweile, dass jemand neues in einer Runde in 30 Sekunden Namen, Funktion, Unternehmenszweck in einem Satz und dem, was er oder sie gerade sucht (Kontakt zu…, Lieferant für…) zum besten gibt. Und als Krönung gerne noch unaufgefordert seine Visitenkarten in die Runde gibt. Das nennt sich dann bei vielen Netzwerken. Der Ursprung dieser Verhaltensweisen ist der „elevator pitch“, eine Welle, die aus den USA zu uns rübergeschwappt ist.
CRM ist effizient, oder?
Was beim Netzwerken wirklich zählt, ist also die derzeit ausgeübte Funktion, nicht der Mensch! Außer Acht bleibt bei dieser Herangehensweise natürlich, dass Menschen ihre Funktion verlieren oder in eine „interessante“ hineinwechseln können. Also eine Statusänderung im CRM*-Programm durchmachen. Das hat dann so (un-)praktische Folgen wie Aufnahme in den bzw. Streichen aus dem Einladungsverteiler zu bestimmten Veranstaltungen. Jeder Veranstalter verfolgt dabei selbstredend das Ziel, möglichst viele direkte oder indirekte „auftragsvergabe-relevante“ Funktionsmenschen einzuladen. Soweit, so effizient. Und kurzfristig orientiert. Denn meist erinnert sich der eine Funktion wechselnde Mensch ja daran, wer ihn wie behandelt oder gar mißachtet hat.
Übrigens sind die Folgen für solche Menschen, die stets eine „auftragsvergabe-relevante“ Funktion innehatten dann am gravierendsten, wenn sie aus dieser Funktion (freiwillig oder gezwungenermaßen) ausscheiden. Denn sie verlieren damit den weit überwiegenden Teil ihres sozialen Umfelds. Ja, es gibt diese Übergangsphase, in der einige Einladungsverteiler für spannende Veranstaltungen noch nicht aktualisiert worden sind. Meist dauert das ein halbes Jahr, dann ist ihr Name (da nun funktionslos geworden) aus dem Verteiler verschwunden. Einladungen, Weihnachtskarten, Geburtstagsanrufe – alles weg.
Was Sie beim Netzwerken über sich lernen können
Unsere Einstellung zum Netzwerken lässt uns folglich viel über uns selbst lernen. Trenne ich zwischen beruflichen und privaten Kontakten? Wenn ja, gibt es gute Gründe dafür? Was sagt das über mein Menschenbild und damit über mich selbst?
Last but not least: Die meisten von uns nehmen intuitiv wahr, ob das Interesse eines Gegenübers mir als Persönlichkeit oder der von mir ausgefüllten Funktion gilt. Auch hierbei zu beobachten: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Bin ich selbst funktionsorientierter Netzwerker, werde ich auch genau solche Menschen anziehen.
Sind Sie ein neugieriger Mensch? Dann entscheiden Sie auf der nächsten Veranstaltung einfach mal nach Bauchgefühl, mit wem Sie Zeit verbringen wollen. Halten Sie den einen Moment inne und nehmen Sie wahr, bei wem ihr Blick hängenbleibt und kommen Sie mit dieser Person ins Gespräch. Sie werden überrascht sein, was für interessante Menschen Sie dann kennenlernen werden. Und immer dran denken: Funktionen wechseln, Persönlichkeit bleibt.
* CRM = Customer Relationship Management (Gabler Wirtschaftslexikon)
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