Antwort auf Anja Försters Kolumne „Balance nervt!“ vom 1.9.2014 in der Zeitschrift Capital (http://www.capital.de/meinungen/balance-nervt.html)
Balance nervt – Capital 2014 Anja Förster (als pdf)
Frau Förster übernimmt in ihrer Kolumne die von ihr kritisierte vermeintliche Botschaft der Werbeindustrie: „Ja, Du kannst alles haben! Alles ist möglich! Du musst nur die richtige Balance finden.“ und kommt zu dem Schluss „Balance ist ein perfides psychologisches Spiel. Denn es gibt keine perfekte Lösung. […] Unter Umständen beinhaltet das „Ja“ […] gleich mehrere Neins. […] Und das bedeutet alles, nur keine Balance.“ Dabei benennt Frau Förster die derzeit üblichen Kriterien, die für „gelungene“ Lebenswege herangezogen werden, vorgebracht an Beispielen Prominenter: Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Kindern, Ehe und Familie sowie wirtschaftlicher Erfolg.
Hier beginnt für mich das eigentliche psychologische Spiel, das Frau Förster auch bereitwillig mitspielt. Es ist das Spiel mit dem Neid. Sieh, die anderen haben wirtschaftlichen Erfolg. Die anderen haben tolle Kinder. Die anderen haben, was ich gerne hätte.
Frau Förster behauptet, es sei für Frau Sandberg sicherlich wünschenswert, ihre Kinder häufiger zu sehen. Das Bedürfnis, Kinder öfter zu sehen als es die jeweiligen Lebensumstände (und seien sie noch so gut) zulassen ist heutzutage unabdingbar mit dem Beginn der Elternschaft verknüpft. Selbst Menschen, die sich rund um die Uhr mit nichts anderem als ihren Kindern beschäftigen, bedauern, dass es keinen 48 Stunden Tag gibt (sog. „Helikopter-Eltern“ wären ein Thema für sich). Ist es nicht auch möglich, dass Frau Sandberg und ihre Kinder mit ihrem Leben so zufrieden sind, wie es gerade ist? Wieso unterstellt Frau Förster ihr ein Defizit? Ist es unser (unbewusster) Wunsch, die offensichtliche Fülle (Reichtum, Kinder, Autorin) durch (willkürlich unterstellte) Defizite wieder ins Gleichgewicht zu bringen?
Es ist nicht erforderlich, eine Zählung der „Ja“ und „Nein“ vorzunehmen. Balance ist keine Mehrheitsentscheidung. „Ja“ und „Nein“ sind als Antwort von der jeweiligen Fragestellung abhängig. Balance ist ein Zustand. Balance ist mit sich und den jeweiligen Umweltbedingungen im Einklang zu sein. Balance, Gleichgewicht, Ausgewogenheit. Für diesen Zustand gibt es die perfekte Lösung, in jedem einzelnen Moment. Nur, dass die Lösung nicht auf Dauer perfekt bleiben muss, weil sich der Zustand, also die Welt und auch ich selbst, in jedem Moment wandelt. Daher kann die gerade getroffene ‚richtige‘ Entscheidung im nächsten Moment ‚falsch‘ sein. Das Leben ist ein Prozess, kein Stillleben. Das erklärt auch, warum es für die Balance von Heidi Klum durchaus richtig gewesen sein kann, sich von ihren Ehepartnern zu trennen. Vielleicht wäre ihr Leben aber auch ausgewogener, wenn sie sich nicht getrennt hätte.
Entscheidungen treffen
„In Wahrheit besteht das Leben fortwährend aus Entscheidungen. Und Entscheidungen bedeuten, dass ich wählen muss: Dieses ODER jenes.“
Übrigens Frau Förster: Es gibt neben den „entweder–oder-“ auch die „sowohl-als-auch-Entscheidungen“. Leider geraten diese zunehmend in Vergessenheit. Wenn es mir wirklich wichtig ist, etwas gleichzeitig zu haben, werde ich Mittel und Wege finden, wie es sich vereinbaren lässt. Wo ein Wille, da ein Weg. Wo ein Unwille, da Argumente.
Heute werden menschliche (und tierische) Bedürfnisse ständig normiert und standardisiert: Mein Haus (Käfig/Stall), mein Ehepartner/ Kinder (Zuchterfolg), meine Altersvorsorge (entfällt). Persönlich will ich meist unterschiedliche, aufeinander folgende Reize. Einsame Spaziergänge tun mir gut, aber auch gesellige Abende mit Freunden. Berufliche Herausforderungen, aber auch Zeit für die Begleitung von Kindern. Das Vermischen dieser Reize ist für mich so unattraktiv wie Salatsoße auf dem Braten. Einige mögen es trotzdem. Doch wenn ich meine Entscheidungen dem Diktat der Masse unterordne, die Entscheidungen anderer lebe, komme ich in innere Zerrissenheit.
Die richtige Balance
Von außen ist nicht oder schwerlich zu beurteilen, ob jemand in Balance ist. Die gute Nachricht: Die meisten von uns sind es. Balance ist etwas, was wir unbewusst immer anstreben. Wir haben einen Gleichgewichtssinn, der uns führt. Daher ist es keine Frage der objektiv getroffenen Entscheidungen, ob ich in Balance bin oder bleibe. Es ist eine Frage des Fühlens, es geht um subjektive Entscheidungen. Du musst die RICHTIGE Balance finden, das Wort „richtig“ ist für mich der springende Punkt.
Hier kommt mein eigentlicher Kritikpunkt: Gefühle sind individuell. Gefühle sind situativ bedingt. Gefühl ist etwas sehr persönliches. Wir können nicht beurteilen, ob ein anderer bei einer Entscheidung mit sich in Balance ist. Wir sehen es nur von außen. Man kann Balance erreichen, indem man sich verbiegt. Andere erreichen es, indem sie sich gerade machen. Es kommt eben auch auf die Umstände an.
Die innere Balance, die Heidi Klum vielleicht durch die Scheidung von Seal erreichte, führt unweigerlich zur äußeren Imbalance mit all denjengen Menschen, die darauf bestehen, dass eine Ehe lebenslang dauern muss. So kann der Preis für die innere Balance die äußere Imbalance sein und umgekehrt.
Wenn ich in der Lage bin, eigenverantwortlich und selbstbewusst zu handeln, gerate ich nicht in die von Frau Förster heraufbeschworene Zerrissenheit und Unfähigkeit Entscheidungen zu treffen. Dazu stehen auch die Werbeaussagen nicht im Widerspruch. Was ist es also, was so ärgert an dieser Art Werbung? Es geht mir ja nicht anders.
Ich glaube, mich ärgert, dass der Begriff Balance so irreführend gebraucht wird. Die Aufforderung in Balance zu kommen, interpretiere ich zunächst als Aufforderung zur Individualität, eben weil mein inneres Gleichgewicht etwas ganz persönliches ist. Balance bedeutet für mich: Geh in Dich, sei zentriert und aufrecht, bleib ganz in Deiner Mitte.
Was die Werbestrategen meinen, ist: “Geh im Außen in die Mitte, sei ein Mittelwert.“ Das klingt ähnlich, ist aber etwas ganz anderes. Die Botschaft heißt: „Minimiere Deine Abweichung von der gesellschaftlichen Mitte. Denn dann können wir Dir alles verkaufen.“ Nur: Ein Mensch als Mittelwert ist etwa so individuell, aufregend und wertvoll wie ein Burger im „Gasthaus zur goldenen Möwe“.
Fazit
Wer mit sich selbst im inneren Gleichgewicht ist, ist aufrecht und aufrichtig zu sich selbst. So können Menschen ihr Leben hinbekommen und haben auch kein Problem, wenn sie nicht alles haben oder gar von der Norm, dem Mittelwert, abweichen. Wer jedoch Entscheidungen anhand von Mehrheitsmeinungen oder vermeintlichen gesellschaftlichen (An-)Forderungen trifft, wird aus der Balance geraten.
Der Missbrauch der Sprache wird von der Werbung weiter fröhlich vorangetrieben. Idiotien wie „Spar Dich reich“, mit denen zu mehr Konsum aufgefordert wird, fallen und regen schon niemanden mehr auf. Nun werden neue Sprachfelder erobert: Achtsamkeit, Balance, das gesamte geistliche und spirituelle Vokabular wird zukünftig den heilbringenden Konsum begleiten und weitere Worte zu Phrasen aushöhlen.
Möge der Umsatz mit Euch sein.
[kh, 15.9.2014]
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